Projekt-Beschreibung
Die Entscheidung für ausschließlich waagrechte Linien als Gestaltungsmittel schafft ein Zeichensystem, dass sowohl im Entstehungsprozess, als auch beim betrachten der Arbeiten den Zeitbegriff neu zu definieren scheint.
Langsame, zum Monotonen hin sich verselbstständigende Strukturen sind es, die Renate Krammer seit Jahren beschäftigen – Linien, Striche, die sich in Zeilenanordnung wiederholen. Ausschließlich mit freier Hand zeichnet sie die immer horizontalen Linien. Dichte und Stärke sowie die Länge und deren Abstand voneinander sind die einzigen gestalterischen Entscheidungen, die zu treffen sind. Was die Künstlerin in der Zeichnung einst suchte, war Formlosigkeit, die sich jedoch trotz strenger Reduktion keinesfalls eingestellt hat – vielmehr ging ein neuer Kosmos an Formen auf. Wie mit dem binären Code, der mit 0 und 1 auskommt, scheint hier durch horizontale Linien alles ausdrückbar zu sein – Rhythmus, Bewegung, Raum, Licht, Schrift.Durch Verwendung verschiedener Medien- und Materialien ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, die ihrerseits wieder auf bereits vorhandene oder entwickelte Methoden und Formen zurückgehen. Abstraktion, Monochromie, Verabsolutierung des Materials, Erweiterung ins Reale, Verbindung mit anderen Kunstformen – all das bewirkt eine Konzentration auf das Wesentliche. Papier, aus Maulbeerseide hergestellt, gerissen und mit der Risskante nach oben zusammengefügt, ergibt eine reliefartige dreidimensionale Anordnung. Es steht dabei außer Zweifel, dass sich die Kanten zweier Flächen zueinander als Linien beschreiben lassen. Eine auseinander gerissene Fläche erzeugt somit nicht nur zwei neue Flächen, sondern auch zwei Linien – die Risskanten. Plötzlich ist die Zeichnung weg und man kann das Kunstwerk nur mehr im Kontext bzw. im erweiterten Umfeld der Zeichnung einordnen und auch das nur deshalb, weil sich durch die Materialität (Maulbeerseidenpapier) sowohl eine Bildfläche ergibt, wie sich auch der Zustand des Objektes einstellt. Dadurch, dass die gerissenen Papierstreifen in eine rechteckige Form geschlichtet werden, ergibt sich die Metapher des Rahmens. Ob daraus nun eine Grafik oder gar ein Relief entstanden ist, muss offen bleiben und die Entscheidung in die Sphäre des Betrachters verschoben werden. Jedenfalls entsteht aber ein Bild. Alle klassischen Kriterien dafür sind erfüllt – Rahmen, Bildfläche und Gestaltung. Der Riss ist die Spur des Arbeitsprozesses, ist die gezogene Linie mit dem Bleistift genauso, wie die abgeschrittene Linie im Zusammenhang der „Land Art“.
Die Konsistenz der von Renate Krammer verwendeten Maulbeerseide lässt schon im Namen etwas vermuten, das in der Folge auch mitbestimmend für diese Arbeiten wurde. Das sehr faserige Papier hinterlässt beim Reißen eine haarige Kante. Man ist sofort an Textiles erinnert. Vor allem, wenn diese Arbeiten größer dimensioniert sind und sogar am Boden zu liegen kommen – „Bodenskulptur“, 2017 –, sind sie der Zeichnung bzw. dem Grafischen enteilt. Allein die Methode, der Arbeitsprozess ermöglichen einen Transformationsprozess grundlegender Art – vom Bild zum Objekt, vom abstrakten zum inhaltlich lesbaren Objekt, vom Papier zum Textil, etc.
Man sieht hier sehr gut, worum es der Künstlerin geht. Ihre Arbeiten sind ständige Balanceakte zwischen gegenständlich und abstrakt sowie zwischen einer Bedeutungsebene und der nächsten. Das Thema der Linie bleibt dabei zwar erhalten, sie kann sich aber auch rasch auflösen und in etwas ganz anderes verwandeln. Damit bleibt Renate Krammers Kunst offen und erhält sich Möglichkeiten, in mitunter ungeahnte Dimensionen weiterzugehen. Die Erfahrung der Kunstgeschichte und die des technischen Fortschritts (Medienkunst) machen die Linie und den Punkt auch heute zu grundlegenden Elementen der ästhetischen Gestaltung. Wie der binäre Code, der mit 0 und 1 auskommt und alles weitere damit formulierbar macht, scheinen Punkt und Linie wie ein ewiger binärer Code bei der visuellen Darstellung zu funktionieren. In Renate Krammers Fall ist vielleicht die Linie und das Papier als Äquivalent zu verstehen.
Letztlich scheint es der Künstlerin egal zu sein, ob sich das Werk nun abstrakt oder gegenständlich erfassen lässt – vieles davon liegt nicht in ihrer Hand, sondern in den unbewussten und bewussten Bildspeichern der Betrachter und Rezipienten. (Textauszüge aus LINIEN – LINES 3, Günther Holler-Schuster)